Lyrische Beobachtungsstelle

Tilly Norwood: KI-Schauspieler und ihre „fictosexuellen“ Fans | Von Paul Clemente

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“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Sie heißt Tilly Norwood. Ihr Typ erinnert an Hailee Steinfeld oder Vanessa Hudgens. Sie ist jung, sie ist schön – und das Londoner Studio Particle6 hat Großes mit ihr vor: Eine zweite Scarlett Johansson oder Natalie Portman soll sie werden. Also erste Liga.

Natürlich postet das Nachwuchs-Sternchen bereits auf Instagram. Sätze wie: „Hatte so viel Spaß bei den Screen-Tests. Bald vielleicht auf der großen Leinwand.“ Wütende Kommentare folgen postwendend. Viele User finden Tilly geradezu „ekelhaft“ oder irgendwie „unethisch“. Eine Schauspielerin klagte, dass „so eine“ ihr künftig die Rollen wegnähme. Andere kritisierten das Schönheitsideal, das Tilly repräsentiere: Jede Haarsträhne stimmt, keine Falten, selbst die Sommersprossen sind optimal verteilt. Ihr Gesicht: Perfekt symmetrisch. Wie sie das hinkriegt? Nun, Tilly Norwood existiert nicht. Zumindest nicht im physischen Sinne. Sie ist durch und durch KI. Und nein, sie wurde nicht von notgeilen Programmierern erstellt. Sie ist keine Männerphantasie. Hinter ihr steht Ellie van der Vellen, TV-Produzentin und Chefin von Particle6.

Tillys Auftritt auf dem Züricher Filmfestival verwandelte Hollywood in einen aufgescheuchten Hühnerstall. Star-Schauspielerin Emily Blunt klagte gegenüber Variety:

„Meine Güte, wir sind am Arsch! Das ist wirklich beängstigend. Bitte hört auf, unsere menschliche Verbindung zu zerstören.“

Nun braucht sich Mrs. Blunt keine Sorgen zu machen. Finanziell hat sie längst ausgesorgt. Trotzdem hat sie recht: Filmproduzenten werden künftig abwägen, ob sie ihren Stars weiterhin Millionengagen zahlen – oder sie einfach am Rechner erstellen. 

Noch versucht das Londoner Studio, den Panik-Pegel zu senken. Auf Tillys Instagram-Account heißt es: Die junge Frau sei ein Kunstwerk und keinesfalls Ersatz für Darstellerinnen.

Wirklich nicht? Immerhin verhandelt Particle6 bereits mit Schauspiel-Agenturen. Die sollen Tilly in Hollywood-Produktionen unterbringen. Genau das treibt analoge Kolleginnen auf die Barrikaden. So forderte Natasha Lyonne: Jeder, der mit Norwood arbeite, müsse boykottiert werden. Andere finden es unfair, dass die Arbeit „echter“ Schauspielerinnen von der KI gekapert und für Tillys Kreation verwurstet würde. Stimmt, aber: Ist Kunst nicht immer Nachahmung? Zumindest anteilig? Fast jedes Werk wurde durch Vorgänger inspiriert. Zitierung, Variation, Vermischung und Abwandlung sind feste Bestandteile im Schaffensprozess. Lange schon vor Tilly. 

Ohnehin ist dieser Empörungs-Orkan kaum nachvollziehbar. Schließlich weiß man seit Jahrzehnten, dass dieser Tag kommen würde. Schon vor einem Vierteljahrhundert hat Science-Fiction-Autor William Gibson den Roman „Idoru“ über einen digitalen Musik-Star geschrieben. Oder: Als Brandon Lee beim Dreh zu „The Crow“ tödlich verunglückte, stellte man den Film mit einem digitalen Double fertig. Das ist 32 Jahre her. Seitdem hat sich Hollywood weitgehend von analoger Technik verabschiedet. Vor allem in der Ausstattung: Weshalb teure Kulissen bauen? Lieber stellt man Schauspieler vor eine grüne Wand! Die Ausstattung wird später reingepixelt. In „Blade Runner 2049“ sind die Darsteller das letzte analoge Überbleibsel einer vollständig virtuellen Bilderwelt. „Der Herr der Ringe“ bot mit der Gollum-Figur eine erste Kreuzung zwischen analogem Akteur und KI. Auch Make-up wird digital optimiert: Zur Retusche von Schönheitsfehlern. Den Schauspieler komplett zu ersetzen, ist nur konsequent. 

Was in der gesamten Debatte auffällt: Sie beschränkt sich auf Norwoods Auswirkung auf die Filmindustrie. Übergangen wird dabei: Welchen Einfluss haben KI-Stars auf die Fan-Kultur? Klar ist: Der traditionelle Star-Kult wird restlos revolutioniert. Beispiele: Kein Fan erhält jemals ein Autogramm von Tilly Norwood. Es sei denn, er akzeptiert eine KI-Kritzelei. Und Selfies mit ihr? Die müssen Fans künftig via Photoshop erstellen: Als Bildmontage. Niemand wird Tilly jemals live erleben. Niemals flaniert sie über den roten Promi-Teppich. Niemals nimmt sie Auszeichnungen oder einen Preis entgegen.    

Dennoch, einen Vorteil hat die Nicht-Existenz künftiger KI-Stars: Der ganze Gossip, den die Boulevardpresse verstreut - er würde entfallen. Tilly trampelt in keinen politischen Fettnapf, wird niemals Opfer der Cancel-Culture oder zum MeToo-Fall. Es gäbe keine Paparazzi-Fotos, keine irren Stalker, keine Liebes-Affären und Scheidungskriege. Das Publikum weiß, ihr Idol hat keinen biographischen Hintergrund. Nicht einmal ein Geburtsdatum. Und das führt zur nächsten Frage:

Kann, darf oder soll Tilly altern? Angenommen, das Publikum akzeptiert den virtuellen Star: Sollte man einen Alterungsprozess simulieren? Oder will man Mrs. Norwood diese Metamorphose ersparen? Soll sie in zwanzig Jahren noch als Teenager über die Leinwand springen? In diesem Falle würde Tilly zu einer überzeitlichen Cartoonfigur. So wie Wonder-Woman oder zahllose Manga-Girls: Die sind dem Fluss der Zeit entzogen. Sie leben in einer Art Geisterreich. Eine Mauer trennt sie von realen Menschen. Und genau die wollte der Japaner Akihiko Kondo vor sieben Jahren überwinden: Als Fan des Manga-Mädchens Hatsune Miku hat er das virtuelle Girl in einer aufwendigen Zeremonie geehelicht. Die Firma Gatebox stiftete dem Verliebten die Heiratsurkunde und ein Gerät, das Hologramm-Projektionen seiner „Ehefrau“ erstellt. Kondo bezeichnet sich selbst als fictosexuell: als jemanden, der fiktionale Personen liebt. Vielleicht wird das Schule machen? Wann kommt der erste Fan, der Tilly Norwood heiraten will?  

Natürlich bleibt der Einsatz fiktionaler Persönlichkeiten nicht auf die Medienbranche begrenzt. Schon vor sieben Jahren kandidierte in der japanischen Stadt Tama ein Roboter zur Bürgermeisterwahl. Geworben wurde mit seiner Immunität gegen Korruption. Obwohl geschlechtslos, prangte auf dem Wahlplakat ein Maschinenmensch mit weiblichen Formen. Nicht einmal die virtuelle Welt funktioniert völlig geschlechtslos.

Dass die KI überall zum Einsatz kommt, ist nicht pures Resultat technischer Entwicklung. Es ist auch Konsequenz unseres kulturellen Über-Ichs: Der KI-Mensch ist der perfekte Mensch. Er erhält regelmäßig Updates, steht immer an der Optimierungs-Spitze. Er betreibt keinen Gagen-Poker und ist moralisch unfehlbar. Mit anderen Worten: Er ist das Produkt einer Menschheit, die ihre eigene Unvollkommenheit kaum erträgt.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Tilly Norwood KI: Schauspielerin lange, braune Haare, braune Augen

Bildquelle: Shutterstock AI/ shutterstock

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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